Mit
George Edward Milne:
Natchez Country.
Athens 2015
und
James F. Barnett:
Mississippi´s American Indians.
Jackson 2012
sind vor einiger Zeit zwei Veröffentlichungen erschienen, die für Leser, die sich mit den Indianerkulturen am unteren Misissippi beschäftigen, interessant sein könnten.
Eine Veröffentlichung von Ian W. Brown und Vincas P. Steponaitis in dem Sammelband zur Archäologie des Südostens von
Gregory A. Waselkov (Hrsg.) und Marvin T. Smith (Hrsg.):
Forging Southeastern Identities: Social Anthropology, Ethnohistory, and
Folklore of the Mississippian to the Early Historic South.
Tuscaloosa 2017
wirft ein etwas anderes Licht auf die bis dahin übliche Sichtweise vom Aussehen des Großen Dorfes der Natchez.
In
Beck, Robin:
Chiefdoms, Collapse, and Coalescence in the Early American South.
New York 2013
werden historische Prozesse beschrieben, die in ähnlicher Form im gesamten Südosten Nordamerikas bis hin zum Mississippi abgelaufen sind.
David. H. Dye
beschreibt in
Ancient Mississippi Trophy-Taking
in:
Oxford Handbooks Online.
Oxford 2016
www.oxfordhandbooks.com
die Zusammenhänge zwischen Religion und dem Erbeuten von Trophäen in der Mississippi-Welt.
In den beiden Bänden von Christian Pinnen
Complexion of Empire in Natchez,
Athens 2021
und
Colonial Mississipi,
Jackson 2021
werden die Zusammenhänge zwischen der Machtpolitik der europäischen Staaten in den Kolonien und dem Weltmarkt dargestellt.
In dem Sammelband von
Smithers, Gregory D. und Brooke N. Newman (eds.)
Native Diasporas
Lincoln und London 2014
werden die Zusammenhänge zwischen Bewusstseinsbildung und Diaspora detailliert erläutert.
In
Gregory D. Smithers:
The Cherokee Diaspora
New Haven und London 2015
werden Fragen der Diaspora einer neuen Wertung unterzogen.
Milne (2, 5-8) sieht drei Faktoren als prägend an für die kolonialen Auseinandersetzungen zwischen Franzosen und Natchez: die traditionelle Art der Natchez auf die Neuankömmlinge zu reagieren, die räumlichen Voraussetzungen und die Herausbildung einer eigenen indianischen Identität.
Milne (7f.) argumentiert, dass die Natchez zunächst auf eine recht traditionelle Art und Weise auf den durch die "Frontier-Ökonomie" verursachten engen Kontakt zwischen ihrer eigenen Gruppe und den Kolonisatoren reagierten, indem sie annahmen, die Neuankömmlinge, ähnlich wie in vorkolonialer Zeit andere von außen kommende Gruppen, in ihre Sozialstruktur integrieren zu können. An Hand zahlreicher Vergleiche zwischen dem absolutistischen Frankreich und dem Häuptlingstum der Großen Sonnen verdeutlicht Milne (17-41), dass ungeübte Beobachter den Eindruck gewinnen konnten, die Strukturen beider Gesellschaften seien sich sehr ähnlich und würden einer Verknüpfung Vorschub leisten. Die Geiselnahme des Natchez-Kriegshäuptlings und weiterer Adliger der Natchez interpretiert Milne (68-78) dahingehend, dass durch deren Verlauf die Auffassung der Sonnen, ihre eigene soziale Gruppe sei der des Anführers der Franzosen vergleichbar, noch gestärkt wurde. Hinzu kam, dass die Kolonisatoren in der ersten Zeit tatsächlich auf die Hilfe und Unterstützung der Einheimischen angewiesen waren und damit ein Verhalten zeigten wie früher schon fremde Gruppen, die aus irgendwelchen Gründen alleine nicht mehr überleben konnten und Zuflucht und Sicherheit im Schutz der stärkeren Mississippi-Häuptlingstümer suchten. (Milne: 52f.). Erst viele Jahre nach Ankunft der ersten Europäer setzte sich bei den Natchez-Anführern nach Milne (117) die Erkenntnis durch, dass eine Integration der Neuankömmlinge nach dem überlieferten Muster nicht möglich war.
Der geografische Raum steht für Milne (5f., 133ff.) in einem Wechselspiel mit den sozialen Strukturen und der Spiritualität seiner Bewohner, sodass der geografische Raum auch eine soziale Bedeutung besitzt und eine Quelle der Autorität darstellt. Milne (88-91, 116) erläutert, dass die Landnahme durch die Europäer neue, den Indianern unbekannte Eigentums- und Produktionsverhältnisse im Natchez-Land einführte. Die neuen Bodenbearbeitungstechniken waren den einheimischen überlegen und führten bald zu einer Bedrohung der indianischen Nahrungsmittelversorgung. Erschwerend wertet Milne (93, 98), dass um das für den Anbau geeignetste Land von einer so zahlreichen Bevölkerung konkurriert wurde wie sonst kaum irgendwo in Nordamerika. Eines der Natchez-Dörfer wehrte sich mit einer Strategie, die einer allmählichen stufenweise Eskalation von Übergriffen glich und die von Milne (94f.) als eine Art Ermahnung beschrieben wird, sich den Ordnungsvorstellungen der Einheimischen unterzuordnen. Ziel der Übergriffe war zunächst das Nutzvieh der Siedler und dabei auch nur das jener Siedler, die sich in den Augen der Indianer einer Überausbeutung der natürlichen Ressourcen schuldig gemacht hatten. (Milne: 100). Milne (70-75, 105f., 111, 115-119) weist nach, dass die Art, solche Streitigkeiten zu schlichten, anfangs eher die Autorität der Sonnen aus dem führenden Dorf stützte, weil deren innere Widersacher ausgesschaltet wurden, später aber kaum mehr auf diese Weise wirkte. Verantwortlich hierfür macht Milne (116f.) die zwischen Einheimischen und Kolonisten gemischte Siedlungsweise, wodurch sich viele Beziehungen zwischen diesen beiden Gruppen dem Einfluss der alten Eliten entzogen, und den Zugang der weiter am Rande der Natchez-Region gelegenen Dörfer zu englischen Waren, die dem führenden Dorf nicht zur Verfügung standen und somit nicht von den Großen Sonnen ihren Untertanen zur Verfügung gestellt werden konnten und dadurch als Quelle für ihre Autorität wegfielen. Als die Protagonisten der anfänglichen Streitschlichtungsmethoden starben bzw. nach Europa zurückkehrten, fehlten auf beiden Seiten Verhandlungsführer, die mit diplomatischen Geschick Unruhen beruhigen konnten.
Milne (2) geht davon aus, dass die Natchez sich erst im Laufe der Auseinandersetzungen mit den französischen Invasoren ihrer ethnischen Identität bewusst wurden. Sie wurden erst allmählich "rot". Dieses Bewusstsein half ihnen, nach Milne (167f., 171), ihre heterogenen Strukturen zusammen zu halten und sich sowohl von den Kolonisatoren wie auch den afrikanischen Sklaven abzugrenzen. Die Erfahrung, an gleicher Stelle in die koloniale Gesellschaft eingeordnet zu werden wie die aus Afrika eingeführten Sklavenarbeiter stärkte nach Auffassung von Milne (149) diese Bewusstwerdung. Die Identifizierung mit der Farbe Rot knüpfte gleichzeitig an traditionelle indianische Bedeutungen an.
Erst das Zusammentreffen dieser drei Faktoren macht Milne (9ff., 161f., 171) für den Ausbruch der Unruhen und den Aufstand der Natchez und schließlich ihren Untergang verantwortlich. Bei den Eliten der Natchez wuchs allmählich die Einsicht, dass ihre althergebrachten Mechanismen der Integration fremder Gruppen gegenüber den Europäern nicht funktionieren konnten. Die Landnahme von Teilen des geheiligten Bodens der Natchez zum Anbau von Tabak bedrohte unmittelbar die Quellen, aus denen die Sonnen ihre Autorität bezogen und gefährdete die Verbindung der Natchez zu ihren Ahnen, die in diesem Boden ruhten. Die Sonnen reagierten, indem sie mit Bezug auf ihre Identität als "Rothäute" versuchten, eine neue Quelle für ihre Autorität aufzubauen, die sowohl die unterschiedlichen Teile ihres Volkes zusammenführen konnte, als auch die ihnen genommene unbewegliche Quelle ihrer Autorität durch eine andere, gewissermaßen bewegliche, Autorität ersetzen sollte.
Barnett vermittelt einen weit gefassten Überblick über die Geschichte der einheimischen indianischen Bevölkerung des unteren Mississippiraumes und des westlichen Alabamas bis zur Mobile-Bucht an der Golfküste. Der zeitliche Rahmen reicht von der Vor- und Frühgeschichte über die protohistorische Zeit, also die Zeit zwischen dem ersten Kontakt mit Europäern und dem Beginn der systematischen Kolonisierung, bis hin zur Vertreibung der Südostgruppen aus ihrer angestammten Heimat.
Die archäologischen Fundstätten Poverty Point, Tchefuncte, Marksville, Troyville, Coles Creek, Moundville, Winterville, Plaquemine und schließlich Anna-Mound und Emerald-Mound der Natchez-Vorfahren werden vorgestellt. (Barnett: 22-29, 31-34, 36-40). Der materielle Kulturbesitz wie auch die gesellschaftlichen Organisationsformen der Menschen, die an diesen Orten gelebt haben, werden beschrieben.
Danach begleitet Barnett (47-59) die de Soto-Expedition quer durch den Südosten bis zu deren schicksalshaften Zusammentreffen mit den Bootskriegern des mächtigen Quigualtam in der Region um die heutige Stadt Natchez. Er (63-66) erwähnt kurz die französischen Expeditionen von Marquette und Joliet und von La Salle zum Mississippi über 130 Jahre später, um dann auf die Lebensverhältnisse der Natchez um die Zeit der Anwesenheit von Le Page Du Pratz einzugehen. Dies war die Zeit des indianischen Sklavenhandels, der ausgehend von den Engländern in Carolina sich über den gesamten Südosten bis hin zum Mississippi erstreckte. Es gibt, so Barnett (72), Hinweise, dass auch die Natchez in Sklavenraubzüge verwickelt waren.
Den ersten umfassenden Bericht über das Siedlungsgebiet des Sonnenhäuptlingstums der Natchez und deren Tempel/Plaza-Bezirks schreibt Barnett (76-79) dem Kommandanten d'Iberville zu, dessen Taensa-Informant zahlreiche Hinweise auf die einheimischen indianischen Gruppen des unteren Mississippi liefert. Zu jener Zeit soll es drei Zeremonienhügel im damaligen Großen Dorf, deren Beschreibung durch die französischen Augenzeugen im Wesentlichen durch moderne archäologische Untersuchungen ergänzt und bestätigt werden, gegeben haben. Abweichende Überlegungen hierzu haben Brown und Steponaitis (s. u.) veröffentlicht. Hinsichtlich der gesellschaftlichen Strukturen und Autoritätsbeziehungen wurde die Wahrnehmung der Kolonisten nach Einschätzung Barnetts (84f.) dadurch behindert, dass sie fast ausschließlich die Verhältnisse im Großen Dorf und weniger in den anderen Dörfern im Blick hatten. Gerade in den Außenbezirken war die Autorität der traditionellen Eliten durch die Anwesenheit der Europäer deutlich geschwunden. Hinzu kamen Mißverständnisse auf Grund vermeintlicher Ähnlichkeiten zwischen den Sozialstrukturen der Natchez und denen der absolutistischen Gesellschaft Frankreichs, die letztlich jener Interpretation, die später als "Natchez-Paradoxon" bekannt wurde, Vorschub leistete.
Im weiteren Verlauf seiner Darstellungen geht Barnett (86f., 100-106) auf die Bemühungen von Engländern und Franzosen ein, die verschiedenen Südost-Gruppen für ihre jeweiligen Interessen einzuspannen und Alliierte für ihre Kolonialkriege zu rekrutieren sowie auf den Yamasee-Krieg, der das Ende der indianischen Sklavenzeit markierte.
Nachdem die Sklavenjäger keine englischen Abnehmer mehr für ihre Beute finden konnten, zogen viele ehemalige Sklavenjägertrupps marodierend durchs Land. Barnett (109f.) vermutet, dass die Gruppe jenes Natchez-Häuptlings, deren Übergriff auf französische Reisende den ersten sog. Natchez-Krieg, der auch als Geiselkrise bekannt wurde, ausgelöst hatte, ein solcher umherstreifender Trupp war. Die Unstimmigkeiten zwischen Einheimischen und Kolonisten nahmen zu, je mehr französische Siedler aus dem Mutterland kamen und Land direkt von den Natchez kauften, ein Vorgang, der nach Einschätzung von Archäologen von den Indianern eher als ein Einräumen von Nutzungsrechten, von den Franzosen aber wahrscheinlich als Eigentumswechsel angesehen wurde. Barnett (113f.) nimmt an, dass eine unangemessene französische Vergeltung von Übergriffen auf Viebestände der Siedler den Beziehungen zwischen Natchez und Franzosen irreparablen Schaden zufügte. Er (124-127) geht davon aus, dass die Situation immer weiter eskalierte und in der Revolte der Natchez mit deren anschließender Niederschlagung endete, nachdem die den Franzosen freundlich gesinnten Häuptlinge verstorben waren und nachdem in einem eher den Engländern zugeneigten Siedlungsgebiet eine neuerliche Landnahme erfolgen sollte.
Die Zeit nach dem Sieg der Engländer im Siebenjährigen Krieg und dem Rückzug der Franzosen aus Nordamerika beschreibt Barnett (147-151, 154-157) als eine Zeit, in der die einheimischen Gruppen gerade der Mississippi-Region versuchten, sich mit der neuen politischen Situation zurechtzufinden und gleichzeitig ihre Traditionen unter den veränderten Bedingungen zu bewahren. Das weitere Schicksal der überlebenden Natchez lässt sich von da an nur noch sporadisch an Hand vereinzelter, teilweise indirekter Hinweise nachvollziehen. (Barnett: 151f.).
Brown und Steponaitis (in: Waselkov und Smith: 346) gehen davon aus, dass Fatherland-Site, der Ort des Großen Dorfes auf dem Gebiet des heutigen Natchez-Distrikts, etwa zwischen 1500 und 1650 seinen Status als übergeordnetes Zeremonialzentrum der Natchez erlangte. Davor hatten zunächst Anna-Site und danach Emerald-Site diese Funktion inne.
An Hand der Auswertung einer in den vergangenen Jahren aufgefundenen zeitgenössischen Landkarte des Natchez-Gebietes des frühen 18. Jahrhunderts sind Brown und Steponaitis in der Lage, ein detaillierteres Bild von Fatherland-Site zu zeichnen, als dies durch die bis dahin erfolgten archäologischen Arbeiten möglich war. Erst dadurch, dass diese Karte 2007 von der französischen Nationalbibliothek online gestellt wurde, erlangte sie größere Aufmerksamkeit. (Brown und Steponaitis in: Waselkov und Smith: 368).
Entgegen der Annahme, Fatherland-Site habe aus jenen drei Hügel bestanden, die bei den Ausgrabungen im 20. Jahrhundert offen gelegt wurden, weist die von Brown und Steponaitis (in: Waselkov und Smith: 348ff.) eingesehene Karte des französischen Kartographen des 18. Jahrhunderts sechs Hügel auf, von denen einer als Hügel mit der Hütte des obersten Häuptlings, einer als der mit dem neuen und einer als der mit dem alten Tempel bezeichnet sind. Die Kennzeichnungen des Raumes zwischen diesen Hügeln deutet an, dass es sich hier um einen Platz für Zeremonien gehandelt haben muss. Hinweise auf einen Hügel mit einem Tempel, der zur Zeit der französischen Kolonisten noch in Gebrauch war, und einem Hügel mit einem alten Tempel sind auch bei Le Page du Pratz (Swanton, 1911: 170f.) zu finden. Die Zuordnungen des neuen Tempelhügels und des Häuptlingshügels stimmen laut Brown und Steponaitis (in: Waselkov und Smith: 356) mit der von Neitzel auf Grund seiner Grabungen in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts vorgenommenen Zuordnungen überein. Zur Erklärung der Differenz zwischen den drei ausgegrabenen und den sechs Hügeln in der Landkarte des 18. Jahrhunderts weisen Brown und Steponaitis (in: Waselkov und Smith: 358f.) auf einen Berichterstatter aus dem 19. Jahrhundert hin, der davon erzählt , dass Erde zur Errichtung eines Dammes von vorhandenen Grabhügeln genommen wurde.
Robin Beck untersucht die Zusammenhänge zwischen dem Zusammenbruch traditioneller Sozialstrukturen und der auf der Grundlage der vergangenen Formationen hervorgegangenen neuen Strukturen. Als Ausgangspunkt dienen ihm die Veränderungen bei den Catawbas während der frühen Kolonialzeit. Die Catawbas lebten damals ungefähr in der Region an der Grenze zwischen den heutigen Bundesstaaten North- und South-Carolina, dem östlichen Rand der Welt der Mississippi Kulturen (Beck: 1, 3). Für den Zusammbruch der alten Catawba-Sozialstrukturen macht Beck (5 f.) sowohl den Einfluss der seiner Meinung nach lange Zeit überschätzten Krankheiten aus der Alten Welt als auch besonders die Einführung des indianischen Sklavenhandels durch die Engländer verantwortlich.
Mit dem Sklavenhandel wurde die indianische Bevölkerung in die kapitalistische Ökonomie integriert und damit ökonomischen Verhältnissen unterworfen, die denen der vorkolonialen Zeit gänzlich unvergleichlich waren. Die politischen Gemeinschaften, die auf dieser Basis entstanden, waren für Beck (7) völlig anders organisiert als die vorangegangenen Häuptlingstümer. Beck (7) wertet diesen Vorgang als Zusammenfügen unterschiedlicher sozialer Strukturelementen aus verschiedenen Epochen und aus verschiedenen Gemeinschaften, ein historischer Prozess, der im Südosten Nordamerikas weit verbreitet war, und der für Beck am Anfang der Ausformung von Nationen steht.
Die auseinandergebrochenen Grundlagen der Ökonomie, wie sie in den Mississippi-Häuptlingstümern mit ihren hierarchischen Strukturen und ihren Beziehungen zwischen über- und untergeordneten Zentren üblich war, wurden eingefügt in die neuen vom indianischen Sklavenhandel geprägten Wirtschaftsbeziehungen (Beck: 12). Beck (12) sieht als Auslöser dieser Entwicklung in der Catawba-Region das Vordringen der Westo-Indianer aus dem Raum Virginia nach Süden. Die durch diese Wanderungsbewegung vertriebenen Gemeinschaften nahmen Zuflucht bei den weiter südlich lebenden Gruppen, mit denen zusammen sie nach neuen Wegen suchten, sich Zugang zu den von England geprägten ökonomischen Beziehungen zu verschaffen. Die Westo-Indianer waren nach Auffassung von Beck (14 f.) die ersten indianischen Sklavenjäger, die, ausgestattet mit Feuerwaffen, die englische Nachfrage nach Sklaven zu befriedigen trachteten. Unter diesem Druck bildeten die Catawbas und ihre Nachbarn neue politische Gefüge auf der Basis der alten Mississippi-Welt (Beck: 16).
Beck (16) macht den Erbfolgekrieg zwischen Spanien, Frankreich und England für eine Ausweitung des indianischen Sklavenhandels verantwortlich. Die Handelsbeziehungen zwischen Europa, Afrika und Amerika wurden unterbrochen und ein Import afrikanischer Sklaven in die Neue Welt dadurch massiv gestört. Zum Ausgleich wurden die Sklavenjagden Beck (16 f.) zufolge auf weitere Gebiete des Südostens ausgedehnt. Einen Aufstand der Tuscarora-Indianer nahmen die Engländer Carolinas zum Anlass, einen Krieg zu führen, der erneut die Möglichkeit eröffnete, Menschen zu versklaven. Als sich die unterlegenen Tuscarora mit den Yamasee-Indianern verbündeten, führte dies zu einem weiteren Indianer-Aufstand, den Beck (17) als den größten in der amerikanischen Geschichte beschreibt. Obwohl die Engländer schließlich die Oberhand gewannen, brachte diese Auseindersetzung, an der mehr oder weniger und in unterschiedlicher Weise die meisten Südost-Indianer beteiligt waren, dennoch letztlich das Ende des indianischen Sklavenhandels (Beck: 17). Der Import afrikanischer Sklaven erwies sich als weniger aufwendig als die Einbeziehung der indianischen Bevölkerung in das Sklavensystem. Beck (18) sieht in den Nationen der Cherokees, Creeks, Chickasaws, Catawbas u. a. ganz neue, aus vorangegangenen Strukturelementen entstandene politische Strukturen, die die Sklavenära hinterlassen hat.
David H. Dye (1f., 4-6) versteht das Erbeuten von Trophäen und die Riten, die damit in Zusammenhang standen, als Teil des indianischen Glaubenssystems. Er beschreibt Gewaltmaßnahmen als meistens verbunden mit dem Übergang der Seele Verstorbener in die jenseitige Welt und als Maßnahme, um die Kräfte und Fähigkeiten eines anderen auf einen selbst übergehen zu lassen oder um Verbindungen mit der mythischen Welt herzustellen. Von den Kräften eines anderen Menschen wurde angenommen, dass sie vor allem im Kopf und im Skalp zu finden seien. Hierzu wäre es nötig, den Kopf vom Rumpf zu trennen und damit die spirituellen Kräfte gewissermaßen zu isolieren und auf sich zu übertragen. Der Kontakt mit den Europäern mit seinen zerstörerischen Faktoren wie eingeführten Krankheiten, Sklavenraubzügen oder Wettbewerb um Ressourcen destabilisierte die einheimischen Sozialgefüge. Dye (3) sieht hierin einen Faktor, der den Wunsch, die Kräfte eines anderen auf sich selbst übergehen zu lassen, beflügelte.
Aus unterschiedlichen Gründen vermied es die einheimische Bevölkerung, über ihre Religion gegenüber Fremden Auskunft zu geben. Dye (3, 6) weist darauf hin, dass es den europäischen Chronisten daher kaum möglich war, die indianischen religiösen Praktiken angemessen zu beschreiben. Das führte zu zahlreichen Mißinterpretationen, die in modernen Zeiten noch verstärkt wurden durch Darstellungen, wie sie etwa die Filmindustrie liefert. Man könnte anfügen, auch durch Trivialliteratur, wie sie im deutschsprachigen Raum durch Autoren wie Karl May repräsentiert wird. Angeheizt wurden die Mißverständnisse noch dadurch, dass durch Kolonialbehörden oft Kopfgelder auf menschliche Skalps ausgesetzt wurden (Dye: 4).
Die Riten, die sich um die Erbeutung von Trophäen rankten, und deren Darstellung in den Mythen sind für Dye (5f.) ein konstitutioneller Bestandteil der Mississippi-Gesellschaften. Im 13. Jahrhundert seien diese Rituale ein Hauptbestandteil der sozialen Institutionen und des sozialen Handelns der Eliten geworden (Dye: 9). Dye (7) weist beispielhaft auf David Anderson (2002) hin, der das Verhalten in Bezug auf Trophäen als ein entscheidendes Moment am Beginn der Waldland-Zeit und mit dem Aufkommen differenzierter Gesellschaftsstrukturen sieht.
Für eine in den letzten Jahren erfolgte stärkere Berücksichtigung des Zusammenhangs zwischen Religion und Trophäen-Kult und ein Zurückdrängen der Interpretationen von Trophäen ausschließlich als Folge von Krieg oder Rachefeldzügen macht Dye (6ff.) u.a. die Bioarchäologie verantwortlich. Sie lenkte den Blick auf religiöse Darstellungen und Zeichnungen auf Keramikwaren und Kultgegenständen, die Enthauptungen oder menschliche Körperteile zeigen (Dye: 8ff.). Eine Reihe von Fotos von Keramikgegenständen belegen diese Darstellungen (Dye: 10-14).
Bereits die ersten Chronisten berichten vom Erbeuten von Trophäen (Dye: 15): So trafen die Teilnehmer der Expeditionen von Hernando de Soto und von Tristan de Luna auf Hinweise von Skalpierungen. Ein anderes Beispiel sind die Enthauptungen französischer Soldaten, von denen Überlebende der Natchez-Revolte berichten.
Christian Pinnen legt in beiden Bänden den Fokus auf die Politik am Mississippi bzw beispielhaft auf die Situation in der Stadt Natchez in der Zeit von der Entdeckung des Mississippi-Deltas bis zur amerikanischen Revolution. Er erläutert die unterschiedlichen kolonialpolitischen Strategien Frankreichs, Englands und Spaniens und setzt diese in Bezug zu den weltwirtschadftlichen Bestrebungen dieser europäischen Mächte. Die Ausbeutung afrikanischer Sklaven und deren Bedeutung für die am Weltmartk orientierte Plantagenwirtschaft werden beschrieben. Deutlich wird, dass es Kooperationen zwischen den Sklaven aus Afrika und der indigenen Bevölkerung am Mississippi gab, die die Stabilität der kolonialen Machtverhältnisse bedrohten. Offenbar sieht Pinnen hierin einen der Gründe für die brachiale Vorgehensweise der französischen Verwaltung gegen die Natchez. Er stellt einen Zusammenhang her zwischen den vergeblichen Versuchen Frankreichs, dauerhaft indigene Bündnispartner zu finden und dem letztlichen Scheitern der französischen Kolonialpolitik im Südosten Nordamerikas. Auf Grund der geringen Anzahl an Soldaten aus dem Mutterland waren die europäischen Streitkräfte im 17. und auch noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts auf die Unterstützung der einheimischen Bevölkerung beim Kampf um die Vorherrschaft auf dem amerikanischen Kontinent angewiesen. Gelang dies nicht oder nur in unzureichendem Maße, führte das zu einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des kolonialen Projekts.
In diesem Sammelband, zu dem zahlreiche Wisenschaftlerinnen und Wissenschaftler Beiträge geleistet haben, wird aufgezeigt, wie das individuelle und kollektive Bewusstsein das Leben von Menschen, die auf Grund kolonialer Ereignisse ihr Heimatland verlassen mussten, beeinflusst. Es wird deutlich, dass eine Vielzahl von Faktoren sowohl während der Kolonisierung wie auch in der Diaspora eine Rolle spielen. Sie reichen von den unterschiedlichen Unterdrückungsformen der Siedlerkolonien über Regierungshandeln vor und nach staatlicher Unabhängigkeit und wirtschaftliche Tätigkeiten bis hin zur Tropenmedizin und den vielfältigen künstlerischen Ausdrucksformen der nordamerikanischen Urbevölkerung. Die Regionen, die in diesem Band angesprochen werden, liegen in Nordamerika, auf Yucatan, in der Karibik und im Pazifik.
In seinem Buch "The Cherokee Diaspora" beschreibt Gregory Smithers Fakten, die die Entstehung des Bewusstseins von der eigenen Identität und der Gruppenidentität bei Menschen, die unter Diasporabedingungen leben müssen, beeinflussen. Er diskutiert diese Fakten am Beispiel der Vertreibung der Cherokee nach Oklahoma und darüber hinaus. Das Bewusstsein von der eigenen Identität hängt sowohl von der eigenen Wahrnehmung als auch davon ab, wie andere einen wahrnehmen. Identität ist somit eine Folge der sozialen Interaktionen eines Menschen und der sozialen Strukturen, innerhalb denen er lebt. Hieraus kann sich für Menschen in der Diaspora eine Wahrnehmung von zwei Heimatländern ergeben, das, indem sie tatsächlich leben, und das, das nur in ihrer Vorstellung besteht (2015: 20). Die Vorstellung von einem fernen Heimatland, in dem einst die Ahnen lebten, wird überall mit hingenommen, wo diese Menschen hinreisen oder wo sie sich niederlassen.
Als einen Faktor erwähnt Smithers die Auswirkungen von Mischehen zwischen Weißen und Indigenen in matrilinearen Gesellschaften wie denen im Südosten Nordamerikas. Da es eine der Aufgaben der Frauen war, auf diplomatische Weise zu versuchen, einen Ausgleich zwischen streitenden Parteien herbeizuführen (2015: 31), konnten sie diese Funktion nicht mehr wahrnehmen, wenn sie nicht mehr in die traditionellen Strukturen eingebunden waren. Einige Missionare bei den Cherokee befürworteten Mischehen, weil sie sich dadurch Unterstützung bei dem Prozess dessen, was sie unter Zivilisierung verstanden, versprachen (2015: 68 f.). Es gab aber durchaus Vorbehalte sowohl bei den Indigenen als auch bei den Weißen. Die einen befürchteten, dass ihre Traditionen völlig verlorengingen, und die anderen, dass ihre Vorstellungen von Zivilisierung nicht wirklich umgesetzt würden (2015: 71 f., 75 f.).
Eng verbunden mit der Bedeutung der Mischehen für die Gruppenidentität ist die Frage, welchen Einfluss die Abstammung auf das Bewusstsein von Menschen ausübt, die weit verstreut voneinander leben. Nach der staatlichen Anerkennung als indigene Nation und nach den Wirren des 19. Jahrhunderts mussten sich die Cherokee vermehrt mit Anträgen von Menschen auseinandersetzen, die aus recht unterschiedlichen Gründen Bürger der Cherokee-Nation werden wollten (2015: 189 - 193, 198 f.). Eine Kommission, die die Richtigkeit der zahlreichen Bewerbungen prüfen sollte, ging diese Problematik mit deutlich bürokratischen Maßstäben an, die sich neben der Abstammung auch auf den Wohnort der Antragsteller vor ihrer Vertreibung fokussierten. Die Kommission verließ sich allerdings nicht nur auf Abstammung und Geografie, sondern verlangte auch kulturelle Beweise wie die Sprache oder die Praktizierung des traditionellen Glaubens (2015: 203).
Die zunehmende Bedeutung des Territoriums zur Klärung der Cherokee-Identität weist auf die Schwierigkeiten bei der Feststellung der Abstammung hin. Mit dem Territorium war sowohl die Heimat der Ahnen in den südlichen Appalachen als auch das den Cherokee im Westen zugewiesene Land gemeint. Allerdings konkurrierten die Cherokee im Westen mit den in zunehmende Bedrängnis geratenen Plains-Indianern um Zugang zu einem Territorium, das eine relative Sicherheit für das eigene Überleben bot. Mit dem stärker werdenden Andrang handhabte der Cherokee National Council die Zuweisung von Bürgerrechten immer restriktiver, da man ein Einsickern von Indigenen wie auch Weißen ohne wirkliche Cherokee-Identität befürchtete (2015: 183 f.).
Die Identität wird Smithers (2015: 16) zufolge außerdem durch die überlieferten mythologischen Erzählungen geprät. Bei den Cherokee tauchen in diesen Erzählungen häufig Reisen, Ortswechsel und die Deutung geografischer Begrifflichkeiten auf. Die Prägung durch diese Erzählungen unterlagen Veränderungen. War ursprünglich die Rückkehr in das alte Heimatland fester Bestandteil der Cherokee-Mythologie, so kamen später Erzählungen über die Ansiedlung im Westen hinzu, die jetzt im Denken der Cherokee einen breiteren Raum einnahmen.
Die sozialen und politischen Strukturen beschreibt Smithers (2015: 17 f., 32 f.) ebenfalls als auf die Wahrnehmung der eigenen Identität Einfluss nehmende Faktoren. Die Bauwerke und Städte der Cherokee beispielsweise verbanden die sozialen Strukturen mit dem Land auf dem sie errichtet waren. Innerhalb der Städte wurden die beiden sozialen Einheiten, die rote und die weiße Hälfte, von denen die eine für Krieg und die andere für Frieden zuständig war, organisiert. Die im Südosten typischen Tempelhügel, um ein weiteres Beispiel zu nennen, erfüllten wichtige religiöse Funktionen und wirkten gemeinsam mit der Landschaft, in der sie standen, identitätsbildend. Entfernte man sich für längere Zeit von diesem Ort, so kehrte man doch immer wieder zurück. Die Bewertung der sozialen Strukturen im Denken der Menschen hängt wesentlich davon ab, welche Strukturen als geeignet für das eigene Überleben angesehen werden. Die Verfassung etwa, die sich die Cherokee nach der amerikanischen Revolution gaben, nahm deutliche Anleihen bei der US-amerikanischen. Man kann sie auch als Reaktion auf den Druck ansehen, dem die Cherokee durch den Einfall der europäischen Siedler in ihr Land ausgesetzt waren. Es war der Versuch, sich der Lebensweise der Euro-Amerikaner anzupassen, um auf diese Weise als gleichberechtigt angenommen zu werden.
Ein weiterer Identitäten formender und Identitäten am Leben haltender Faktor, den Smithers (2015: 21, 34 f.) erwähnt, sind die geschriebenen wie auch mündlich weitergegebenen Erinnerungen. Sie haben für ihn mehrere Funktionen. Zum einen berichten sie von der Herkunft ihres Volkes, dann sollten sie auch in der Fremde die eigenen Angehörigen immer daran erinnern zurückzukehren und schließlich unterstrichen sie die spirituelle Bedeutung der Heimat. Auch die Erlebnisse während einer Vertreibung und bei der Ansiedlung in einer neuen Region beeinflussen die Erinnerungen. Man darf davon ausgehen, dass dieser Einfluss umso nachhaltiger ist, je traumatischer die Erlebnisse waren. Smithers (2015: 112 f.) spricht davon, dass die Cherokee während ihrer Migration nicht nur schreckliche physische Leiden ertragen mussten, sondern wegen der Trennung von ihrem Herkunftsland mit seiner immer währenden Bedeutung als das Land der Ahnen auch noch psychischem Stress ausgesetzt waren. Eine Besonderheit im Südosten ist die Silbenschrift der Cherokee, mit deren Hilfe es möglich wurde, Erinnerungen unabhängig von Zeit und Raum festzuhalten. Smithers (2015: 82) sieht in ihr ein Medium, mit dessen Hilfe dem Cherokee-Verständnis von Politik und Geschichte Ausdruck verliehen werden konnte.
Das Buch Smithers´ lässt sich auch als eine Geschichte der Cherokee seit der Besetzung ihres Landes durch euro-amerikanische Siedler lesen. Zunächst wird auf die Ursachen der Diaspora eingegangen (Teil 1). Die Auswirkungen des gewaltsamen Vordringens der Siedler und die Reaktion der Cherokee auf deren Pressionen werden geschildert. Die Diskussionen in der Gesellschaft der Cherokee zwischen der Fraktion, die unbedingt in ihrem Heimatland bleiben wollten, und jener, die bereit war wegzuziehen, bevor sie dazu gezwungen wurden, wird dargestellt. Die von der US-Administration gebrochenen Verträge mit den Cherokee und schließlich die gewaltsame Vertreibung in das sog. "Indianerland" westlich des Mississippi wird erläutert. Danach beschreibt Smithers (Teil 2) die Schwierigkeiten, die vor Ort in dem den Cherokee zugewiesenen Land gemeistert werden mussten. Die politischen Strukturen mussten wieder aufgebaut werden. Die alten, bereits im bisherigen Zuhause entstanden Fronten brachen neu auf. Hinzu kamen die Begehrlichkeiten anderer Gruppen, in die Cherokee-Nation aufgenommen zu werden. Die Teilnahme von Cherokee auf beiden Seiten im amerikanischen Bürgerkrieg brachte neue Probleme mit sich, ebenso wie die bis zur Administration Roosevelts andauernde Landverteilungspolitik der US-Regierung. Der Band endet mit einem Ausblick auf das 20. Jahhundert und den Auswirkungen der Vertreibung auf die Literatur der Cherokee.